Grilleau's Blog

September 19, 2014

“Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht!” – Gedanken zum Weltkrieg und seinen geistigen Ursachen

Quelle: http://www.nachrichtenspiegel.de/2014/09/19/wenn-jeder-an-sich-denkt-ist-an-alle-gedacht-gedanken-zum-weltkrieg-und-seinen-geistigen-ursachen/

Das ein Krieg in der Gesellschaft läuft, ist Ihnen klar, oder? Nein, ich meine nicht den Krieg links gegen rechts, der eigentlich nur unserer Unterhaltung und Ablenkung dient. “Linke” und “Rechte” wurden durch kalte Soziopathen ersetzt, Wahlkämpfe drehen sich in erster Linie nur um die eine Frage: wer steht beim Krieg gegen “die da unten” vorne an der Front, wer darf in der Etappe ausruhen. Ja – ich ziele erstmal auf den Krieg “Reich” gegen “Arm” ab, wobei es hier nur um einen begrenzten Reichtum gilt: den Reichtum an Geld. Freude, Liebe, Glück, Freiheit, Seelenruhe werden in diese Gleichung nicht mit aufgenommen, was schade ist: am Ende des Reichtums erleben sich reiche Wesen als arme Socken.

Noch nie gehört? Noch keinen Milliardär gesprochen? Ach – ich bitte Sie: wir leben in der Zeit der größten Tratsch- und Klatschblase der Menschheitsgeschichte, dem Internet. Da liegen arme Milliardäre an jeder Ecke herum. Hören wir dazu Dennis Gastmann, der ein ethnologisches Werk über die Superreichen geschrieben hat und weiß, wonach sie sich sehnen (siehe Karriere.de):

Nach Liebe und einem offenen Ohr. Das klingt kitschig, aber einige meiner Interviews mit Vermögenden verliefen wie Therapiesitzungen. Ich versuchte, den Menschen zuzuhören und vertraute ihnen Intimes aus meinem Leben an. Dafür bekam ich auch etwas zurück.

Nicht nur das – es gibt sogar eine Krankheit, die durch Geld verursacht wird, dass “Sudden Wealth Syndrom”:

Schnelles Geld kann angeblich zu Depressionen, Schuldgefühlen und Paranoia führen. Die Betroffenen fürchten, alles wieder zu verspielen, und fühlen sich verfolgt: von Freunden, von ihrer Familie, von der ganzen Welt. Ihr halbes Leben haben sie sich gewünscht, mehr Zeit mit Frau und Kindern zu verbringen, doch jetzt isolieren sie sich und alles ist viel schlimmer als zuvor.

Wer kein schnelles Geld bekommt, sondern Erbe von altem Geld ist, wird von diesem gefressen, sein Leben wird geraubt. Superyachten, Hotelketten, Konzernwelten – das kann man alles haben, wenn man sich fügt. Einfügt, sozusagen. Sich aufgibt, seine Hoffnungen, Träume und Wünsche im Keller der Supervilla vergräbt, um als Funktionselement des Kapitals zu leben.

Ich weiß, ich gehe jetzt ein Risiko ein: nachdem “Versteher” auch ein Schimpfwort geworden ist (siehe “Putinversteher”, “Frauenversteher”, “Moslemversteher”), werde ich wohl bald als “Reichenversteher” auf den Scheiterhaufen der Armen landen, aber das ist Berufsrisiko: der Philosoph soll nun mal Arzt der Seele sein – und die Seele von Reichen ist da nicht weniger Wert als die Seele von Armen. Zudem ist “verstehen” die hohe Kunst der Philosohie, ihr eigentlicher Lebenszweck, ja, sogar die ganze Geisteswissenschaft dreht sich nur um ein Ziel: den Menschen zu verstehen bevor er den Planeten völlig vernichtet.

Ja, kümmern Sie sich doch einfach mal um die Dimensionen der Hermeneutik, die sich anschickte, auf wunderbare Weise Frieden in die Welt zu bringen, in dem man den Feind verstand, bevor man ihn erschoss: eine Grundlage für jeden Diskussion. Kurz nachdem Dilthey diesen Prozess angestoßen hatte, fing man den ersten Weltkrieg an – drei Jahre nach Diltheys Tod. Was hätten wir für eine große, friedliche, kooperative Zivilistion werden können, wenn wir auf Dilthey anstatt auf den Kaiser gehört hätten. Wir hätten heute Hermeneutiker in die Ukraine geschickt, die die Genese des Konfliktes analysieren und konkrete, friedliche Lösungen anbieten können, die für beide Seiten einen Gewinn darstellen! Übrigens ist diese Art der Problembewältigung die Grundlage jeder Marktwirtschaft und des gesamten Handels, der so über Jahrtausende den Reichtum der Welt gemehrt hat: durch fairen Tausch und faire Geschäfte.

Haben Sie schon mal so über Handel nachgedacht? Nein? Schauen Sie mal in Ihren Kühlschrank: was sie dort sehen, ist das Ergebnis einer Philosophie, das Ergebnis von angewandter Hermeneutik – nur versteht das heute kaum noch einer. Da liegen Kiwis aus Neuseeland, Butter aus Irland, Joghurt aus Griechenland und ein Steak aus Argentinien, weil Menschen über Länder- und Kontinentgrenzen hinweg MITEINANDER gearbeitet haben, sie haben ihre gegenseitigen Bedürfnisse VERSTANDEN und Geschäfte ausgehandelt, die für beide Seiten einen Gewinn darstellen.

Schon erstaunlich, welche Dimensionen Philosophie erreichen kann, wenn man sie praktisch anwendet, oder? Nur leider lernen wir das nicht mehr in den Schulen und Universitäten, wir lernen nichts über die produktive, friedensstiftende Kraft des Verstehens und die daraus stringend folgenden Segnungen des Handels – dafür lernen wir die Geschichte als lückenlose Abfolge von Schlachten und Gemetzeln kennen, die im historischen Alltag der Menschen einen erstaunlich geringen Stellenwert haben … wenn man genau hinschauen würde: die Phasen des Friedens waren immer größer als die Phasen des Krieges – sie interessieren nur nicht so.

Nun – versprochen war ja, dass wir uns um den Krieg kümmern wollten, der um uns herum tobt … und manch einer wird sich wundern, welch´ lange Vorrede den Gedanken vorausgeht – und wohin uns diese Vorrede geführt hat. Der Krieg, um den es mir geht, ist viel heißer als die Kriege, die sonst unseren Alltag beherrschen, er wird jeden Tag geführt – und hat schreckliche, tödliche, vernichtende Folgen … und fängt mit einem einzigen, harmlosen Satz an:

WENN JEDER AN SICH DENKT, IST AN ALLE GEDACHT.

Sicher schon mal gehört, den Satz? Ein Freund hatte mich gestern gebeten, mal ein paar Worte dazu zu verlieren.

Im Juli stand er mal im Stern, es gab eine Bertelsmannstudie, die die große Solidargemeinschaft im Westen Deutschlands lobte … und ein wenig abfällig auf den “Ossi” blickte, der sich so wenig nach “westlichen Standards” richten wollte. Holger Witzel studierte diese Studie genau – und kam  zu erstaunlichen Erkenntnissen:

“Vertrauen” war auch in “gesellschaftliche und politische Institutionen” gefragt – mit anderen Worten: Um die führende Rolle des Kapitals und seiner Parteien. Es mag skurril wirken, aber 61 Prozent der Hamburger empfinden die “Verteilung der Güter in der Gesellschaft” trotzdem “als gerecht”. In Sachsen-Anhalt nur 22 Prozent – aber schließlich wurde ihr Volkseigentum ja nicht mal unter allen Westdeutschen gerecht verteilt.

Spannend auch parallele Beobachtungen dazu:

Insgesamt scheint sich der im Westen bei der “Gemeinwohlorientierung” eher am Wohl der Gemeinen zu orientieren. Wie anders soll man erklären, dass ausgerechnet Hamburg mit 14 vorsätzlichen Körperverletzungen pro 1000 Strafmündigen und Jahr – gegenüber vier in Sachsen – am Ende Bundes-Sieger im Zusammenhalten wurde?

Unangenehme Wahrheiten gibt es auch dazu:

In der DDR hieß das: “Arbeite mit, plane mit, regiere mit!” Arbeiten dürfen manche Ostler zwar noch – geplant und regiert wird aber auch bei ihnen von Westdeutschen. Und ja, die halten zusammen.

Die DDR scheint von Demokratie und ihrem alten Ziel “Selbstverwirklichung in sozialer Verantwortung” noch viel Respekt gehabt zu haben.

Und – Hoppla: wir sind schon mitten drin im Krieg … im Krieg der Systeme um den Inhalt unserer Köpfe. Der Krieg tobt jeden Tag – und vor allem mit Hilfe platter Sprüche. Er wurde gezielt geplant – von Militärs und Wissenschaftlern – um einen Homo Oeconomicus zu züchten, das nützliche Subjekt des Kapitalismus, einen Homunkulus, der die gesamte westliche Hemisphäre bevölkert. Gerade deshalb ist der Blick auf Deutschland interessant: hier traf er nämlich mit dem zur Solidarität verpflichteten Menschen aus den “Neuen Bundesländern” zusammen und entlarvte sich als unangenehmer Zeitgenosse:

Der homo eoconomicus ist ein Soziopath – so Lynn A. Stout, “Juristen an der Cornell-Universität, Expertin für Corporate Governance und Finanzmarktregulierung” (siehe Frank Schirrmacher, Ego, Karl Blessing Verlag 2013, Seite 29).

Die Ursache es Ost-West-Konfliktes: der Homo Sapiens trifft auf den Psychopathen und wird vernichtet wie dereinst der Neandertaler.

Erschreckend, oder?

Ein Satz, den jeder schon einmal gehört hat – und ein Satz, den viele schon oft ausgesprochen haben, ohne darüber nachzudenken, entpuppt sich schon bei oberflächlicher Betrachtung als Propagandainstrument eines (abgeschlossenen) Krieges von Wirtschaftssystemen … und ist noch sehr viel mehr.

Wissen Sie, was Sie in dem Moment tun, wenn Sie diesen Satz öffentlich aussprechen, wenn Sie – meist im Rahmen sozialer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Problembewältigung – Menschen mit der Erkenntnis konfrontieren, dass an alle gedacht ist, wenn nur jeder an sich selbst denken würde?

Sie töten den homo sapiens in sich – im Namen eines Kunstgeschöpfes von Militär und Wissenschaft (jedenfalls ist das die Quintessenz der Überlegungen des Frank Schirrmacher im oben erwähnten Buch “Ego”).

Sie führen Krieg gegen sich selbst – und im Weiteren gegen ihre Art, gegen ihre Gesellschaft, gegen ihre Wirtschaft und gegen den ganzen Planeten … ein Krieg, der wesentlich folgenreicher ist als der Krieg arm gegen reich, der nur eine kleine Ausprägung des Krieges zur Ausrottung des Homo Sapiens ist.

Schauen Sie sich die Geschichte der Menschheit an: erfolgreich waren wir da, wo wir zusammengearbeitet haben. “Wo jeder an den anderen denkt, ist nichts mehr unmöglich” – war die Devise bei der Jagd auf den Höhlenbären, bei der Gründung von Stämmen, Städten und Staaten. Erst das Zusammenlegen der Kräfte es Einzelnen, die Verbindung einzelner zu einem größeren Ganzen, das mehr ist als die Summe seiner Teile hat den Menschen (den “nackten Affen”) zum Herrscher des Planeten gemacht. So haben wir die Tiefen der Ozeane erreicht, haben die Lüfte erobert, sind zu den Sternen geflogen und haben die Grundfesten der Schöpfung erschüttert.

Sicher, wir haben die Wissenschaftler, die ebenfalls einen Feldzug gegen den Homo Sapiens führen – mit Argumenten, die an Stumpfsinn nicht zu übertreffen sind (siehe Focus):

Aus evolutionsbiologischer Sicht ist Egoismus das Grundprinzip schlechthin. „Wer egoistisch ist, kann sich besser durchsetzen“, erklärt der Evolutionsbiologe Josef Reichholf, Abteilungsleiter der Zoologischen Staatssammlung und Professor an beiden Münchner Universitäten: „Das egoistische Grundprinzip gilt für jedes Lebewesen, egal ob Bakterium, Baum oder Mensch.“

Stumpfsinn? Nun ja – ich bleibe streng bei der Biologie, schaue nur als Hermeneutiker und Philosoph. Wir kennen in der Biologie die Erscheinungsformen des Satzes “Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht”, Erscheinungsformen des Egoismus. Sie sind uns allen bekannt und töten jährlich Millionen von Menschen, manche meinen, es nimmt sogar ständig zu.

Wir nennen es Krebs.

Ja – so ist es, wenn biologische Einheiten machen was sie wollen, nur an sich denken und nicht an ihre Umgebung. Ja, diese “entarteten”, “soziopathischen” Zellen setzen sich besser durch. sie “verwirklichen sich selbst” – mit verheerenden Folgen, wenn zum Beispiel eine Zelle im Gehirn beschließt, dass sie ab heute lieber Magensäure produzieren möchte und ihre Umgebung verdaut.

Erschreckend, wenn man es so sieht, oder?

Krebs als Konsequenz der Realisation des homo oeconomicus – passt irgendwie zu Themen wie Finanzkrise, Steuerhinterziehung, Steuerverschwendung, Missmanagment, Betrug, Kriminalität, Diktatur, Terror und Weltkrieg.

Ja – all das wird aus diesem einzigen Satz geboren: “Wenn jeder an sich selbst denkt, wird an alle gedacht“.

Denken Sie bitte daran, wenn Sie ihn das nächste Mal aufsagen, um sich aus ihrer Verantwortung als Mensch zu stehlen. Ja – nichts anderes wollen sie doch, seien wir doch mal ehrlich: ihrer eigenen Bequemlichkeit huldigen, dem “Inneren Schweinehund” einen eigenen Altar bauen und ihm ganztätig huldigen.

Ich merke nun: Sie sind empört – und immer noch vom Gegenteil überzeugt. Immerhin funktioniert der Satz doch! Außerdem verdienen tausende von “Business-Trainern” ihr Geld damit (siehe zum Beispiel den Artikel über “Positiven Egoismus” … eine Art gutmütiger Krebs, der im Hirn trotzdem tödlich sein kann … bei Evidero oder die esoterische Version mit einem extrem hinkenden weil einfach nur aufgrund der Einengung der Perspektive funktionierendem Bergsteigerbeispiel bei Leben-ohne-Limit).

Doch wofür bezahlen Sie diese Leute wirklich? Was machen die konkret?

Sie bezahlen sie dafür, dass sie klatschen, wenn Sie Ihren Kult um ihren “inneren Schweinehund” zelebrieren, ihn anbeten, huldigen, verehren … anstatt ihn einfach zu verjagen.

Natürlich funktioniert der Satz. Nur auf sich selbst bezogen funktioniert jede Krebszellen hervorragend – nur die langfristige Überlebenschance des Körpers sinkt, je mehr Zellen sich aus dem Verbund ausgliedern und eigene Wege gehen.

Hätten Sie jetzt nicht gedacht, dass Sie durch Sprücheklopfen direkt persönlich Schuld sind an der Staatsverschuldung, oder?

Der Egoist ist seit Jahrtausenden die Krebszelle der Gemeinschaft, vernichtet Familien, Stämme, Dörfer, Städte, Länder und ganze Imperien. Das ist der Krieg, von dem ich sprach, und er findet genau jetzt statt: in ihrem Kopf. Tausend Stimmen fordern dort die Vorherrschaft über Werte … und ich hoffe, ich bin jetzt eine davon, die Ihnen klar macht, worum es geht: um einen Menschen zu verstehen, muss man nicht nur NUR an ihn denken, sondern sogar GENAU WIE ER … und das eigene Ego völlig ablegen.

Die Alternative dazu ist der “Krieg aller gegen alle”, der einen nützlichen Nebeneffekt hat: er fordert eine straffe Führung, wie Hobbes nahelegte, sogar durch einen allmächtigen König.

Wer könnte wohl daran ein Interesse haben … und wollen Sie sich wirklich daran beteiligen???

 

Mai 13, 2010

Arm aber sexy

Mit Doktortitel, aber ohne Perspektive

Zwei Doktorandinnen kämpfen mit ihrem Blog Arm aber sexy gegen die Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft.

Julia Rüthemann, Miriam Oesterreich

Die Doktorandinnen Julia Rüthemann (links) und Miriam Oesterreich gründeten zusammen mit ihrer Kommilitonin Teresa Sartore das Blog Arm aber sexy, um auf die prekären Arbeitsbedingungen für Nachwuchswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen aufmerksam zu machen. Foto: oh

Befristete Arbeitsverträge, unbezahlte Überstunden, kaum Job-Perspektiven – worunter Angestellte immer häufiger leiden, gehört in der Wissenschaft schon lange zum Arbeitsalltag. Drei Doktorandinnen wollen jetzt mit ihrem Blog Arm aber sexy auf die missliche Lage von Nachwuchswissenschaftlern aufmerksam machen. Im Interview erklären die Mitgründerinnen Julia Rüthemann und Miriam Oesterreich, warum der Beruf des Wissenschaftlers unterschätzt wird und die Lage in den Geisteswissenschaften besonders prekär ist.

sueddeutsche.de: Was hat Sie dazu bewogen, den Blog Arm aber sexy ins Leben zu rufen?

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März 1, 2009

Theaterskandal um 28 Hamburger Millionäre

Filed under: Uncategorized — grilleau @ 11:31 am
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Eine Aufführung am Hamburger Schauspielhaus schlägt hohe Wellen.

 

Im Anschluss an eine Aufführung von Peter Weiss´”Marat” verlesen 24 Arbeitslose auf der Bühne die Namen der 24 reichsten Hamburger (4 Millionäre hatten gerichtlich ein Nennen ihrer Namen verhindern können).

Der Theaterregisseur Volker Lösch bringt in seiner Bearbeitung des Stücks, das ursprünglich aus dem dem Jahr 1964 stammt, außerdem die folgende Erkenntnis – skandiert durch ein Arbeitslosen-Heer – auf die Bühne:

 “Wenn die 28 reichsten Hamburger 2,5 Prozent Vermögenssteuer zahlen würden, dann stünden dem Haushalt der Stadt 1,2 Milliarden Euro zur Verfügung!”

Wie die Zeiten sich doch ändern

Wir erinnern uns: Es war der damalige deutsche Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit Wolfgang Clement, der den Begriff des “Sozialmissbrauchs” in die öffentliche Debatte gebracht hat. In einer Veröffentlichung seiner Behörde aus dem Jahre 2005 (Vorrang für die Anständigen – Gegen Missbrauch, „Abzocke“ und Selbstbedienung im Sozialstaat. Ein Report vom Arbeitsmarkt im Sommer 2005) ist auf Seite 10 sogar die folgende Passage zu lesen:

Biologen verwenden für „Organismen, die zeitweise oder dauerhaft zur Befriedigung ihrer Nahrungsbedingungen auf Kosten anderer Lebewesen – ihren Wirten – leben“, übereinstimmend die Bezeichnung „Parasiten“. Natürlich ist es völlig unstatthaft, Begriffe aus dem Tierreich auf Menschen zu übertragen. Schließlich ist Sozialbetrug nicht durch die Natur bestimmt, sondern vom Willen des Einzelnen gesteuert.

Natürlich ist es völlig unstatthaft… Parasiten…

Man muss sich diese “Report” genannte Hetze drei Jahre nach ihrer Veröffentlichung wieder vor Augen führen. (Ich kann mich nicht dagegen wehren, wenn ich Wolfgang Clements Bild sehe ständig den – natürlich völlig unstatthaften – Gassenhauer aus der französischen Revolution in meinem geistigen Ohr zu hören: Ah, ca ira, ca ira a la laterne! – Oh, es geht, oh es geht an die Laterne!)

Heute in Zeiten von Finanz-Crash, Geld-Verbrennung und Schrott-Papieren…

bekommt die Parasiten-Passage einen ganz neuen Sound. 2005 schwamm die Bourgeoisie noch ziemlich weit oben und meinte auf uns, die wir uns kaum über Wasser halten konnten, herunter spucken zu dürfen. 2008 denkt man bei “Sozialbetrug” vornehmlich an Millionäre, die keine Steuern zahlen.

Sozialbetrug ist es auch, dass der Staat den Banken bis zu 500 Milliarden Euro als Rettungspaket in den Hintern blasen wird – Geld das uns als RentnerInnen und unseren Kindern als Erwachsenen, die vielleicht studieren möchten, fehlen wird. Geld, das es irgendwann vermutlich nicht einmal mehr geben wird, weil die Währung verfällt und der Staat sich seiner Schuldenlast durch Bankrott und Neustart entledigen wird (Siehe auch: 1948 – Währungsreform – Die Stunde Null).

Es wird Zeit, dass wir die Hetze gegen Arbeitslose als “Sozialschmarotzer” dorthin zurück tragen, wo sie herkommt: in die Wohn-Viertel der oberen 10.000, die über Presse und Glotze die öffentliche Meinung diktieren.

Und es ist keine schlechte Idee, den ursächlichen Zusammenhang zwischen Arm und Reich auf eine Theater-Bühne zu bringen, ist doch das Theater stets die “moralische Anstalt” des Bürgertums gewesen.

Wohltäter und verdiente Bürger am Pranger?

Bei der Uraufführung von “Marat, was ist aus unserer Revolution geworden?” war auf jeden Falls der Bär los. Die Hamburger Kultursenatorin schäumte; die Wohltäter, Spender und Stifter der Kultur unter den Hamburger Millionären drohen mit Wohltatsentzug.

Wir möchten sie zur Besinnung rufen: Natürlich kann man davon reden, dass die 24 Millionäre durch ihre Nennung auf der Bühne an den Pranger gestellt wurden (deren Namen übrigens aus dem Manager-Magazin stammen sollen).

Aber das ist doch immer noch eine Recht humane Form der emotionalen Regulierung gesellschaftlicher Spannungen. In der französischen Revolution, in der Jean Paul Marat eine wichtige Rolle spielte, kam die herrschende Klasse (die Aristokratie) ganz woanders hin, nämlich unter die Gouillotine.

++++

Lesenswerte Berichte über die Aufführung:

“Wer ist Millionär oder Ranking für die Revolution” – Stuttgarter Zeitung online vom 30. Oktober 2008

“Zensur-Skandal am Schauspielhaus” – mopo vom 30. Oktober 2008

Quelle:
http://www.wobblies.de/?p=326

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